VW Jetta 2018 (USA): Stufenheck für die Studentenbewegung

Beitragsbild
Foto 1
Foto 2
Foto 3
Foto 4

Der Highway Number One zwischen Los Angeles und San Francisco, die Route 66, die Straße von Miami nach Key West oder die Byways in New England – es gibt in Amerika wahrlich attraktivere Ziele für eine Jungfernfahrt als die Nebenstraßen in den Feuchtgebieten um Raleigh und Durham in North Carolina. Zumindest für gewöhnliche Autos. Doch wenn man die Premiere eines VW Jetta feiert, ist man hier genau richtig aufgehoben. Nicht weil die beiden Nachbarstädte im Südosten der USA so gesichtslos wären, wie es der Golf mit Stufenheck lange Jahre gewesen ist. Sondern weil es kaum irgendwo in Amerika so viele Universitäten und mit ihnen so viele Studenten auf so engem Raum gibt, wie hier. Und wo Studenten sind, ist der Jetta nicht weit, sagt Produktmanager Daniel Shapiro. Denn während der Jetta bei uns, wenn überhaupt, bei Sensoren und Spießern punkten konnte, steht er in den USA als günstiges Einstiegsmodell mit europäischen Wurzeln vor allem beim akademischen Nachwuchs hoch im Kurs.

Damit hat es VW jenseits des Atlantiks weit gebracht: „Der Jetta ist für uns ein Dauerbrenner“, sagt Produktmanager Shapiro. Nicht nur für die Marke, die seit der Premiere im Jahr 1978 über 17 Millionen Exemplare verkauft hat und die Limousine noch vor Passat oder Polo als eines der erfolgreichsten Modelle rühmt. Sondern insbesondere für den Markt. Denn mit insgesamt über drei Millionen Zulassungen steht der Jetta in Amerika für rund ein Drittel aller VW-Verkäufe.

Kein Wunder also, dass Shapiro und seine Kollegen diesmal auch den Hut aufhatten, als es um die Entwicklung des neuen Modells ging. „Wir haben den Jetta neu gedacht und neu gemacht“, sagt der Produktmanager. „Und wir hatten dabei vor allem unsere Kunden in Amerika im Sinn.“ Mit dem Einfluss aus Chattanooga ist aus dem auch weiterhin in Mexiko produzierten Jetta deshalb ein durch und durch amerikanisches Auto geworden, selbst wenn er jetzt erstmals auf dem Modularen Querbaukasten fußt und damit wieder enger mit Golf & Co verwandt ist als je zuvor. Das gilt im Guten für das üppige Platzangebot der nun auf 4,70 Meter gestreckten Limousine, für das gefällige und mittlerweile relativ selbstbewusste Design, die üppige Ausstattung mit LED-Scheinwerfern und Infotainment-Extras wie Apple Carplay oder Android Auto als Standard, für Komfort-Optionen wie die klimatisierten Sitze, das Soundsystem von Beats oder die Ambiente-Beleuchtung und natürlich vor allem für den Preis, der mit den Kostenvorteilen des Baukastens sogar noch einmal gesenkt wurde und nun bei 18 565 Dollar beginnt. Und das gilt im schlechten für die im Vergleich zu europäischen Modellen eher mäßige Materialqualität mit mehr Hartplastik im Cockpit und dünnerem Leder auf den Sitzen oder mit unverkleideten Federbeinen an der Klappe im Kofferraum genau wie für das eher unaufgeregte Fahrverhalten. Denn zumindest bis im nächsten Jahr ein Jetta GLI mit Sportfahrwerk und dem 230 PS starken Zweiliter-Turbo unseres Golf GTI kommt, gibt der Jetta in Amerika den vernünftigen Leisetreter: 1,4 Liter Hubraum müssen dem Vierzylinder reichen, der sich im großen Bug der Limousine fast verliert.

150 PS und 250 Nm leistet das Triebwerk und hat mit der rund 1.500 Kilo schweren Limousine zwar überraschend leichtes Spiel. Doch wenn man kräftig aufs Gas tritt, klingt der Motor schnell angestrengt. Mit Rücksicht auf die Reifen ist bei 180 Sachen schon wieder Schluss. Und weil es der Amerikaner eben gerne komfortabel mag und ohnehin nirgends schnell fahren darf, hat der Jetta nicht nur eine betont lässige Fahrwerksabstimmung und eine Lenkung mit eher entspannter Grundeinstellung. Es gibt als Alternative zum Handschalter keine Doppelkupplung mehr, sondern die erste Achtgang-Automatik bei VW.

Da ist es ganz gut, dass es rund um Raleigh und Durham zwar viele schöne Küstenstraßen entlang der zahlreichen Seen gibt. Doch Steigungen sind hier genauso selten wie enge Kurven, so dass man soft und sachte durch die Landschaft surft und alle Eile von einem abfällt. Stattdessen freut man sich lieber an den knapp sieben Litern Normverbrauch, die im Umfeld von Toyota Corolla, Honda Civic, Ford Focus und Hyundai Elantra mehr als vorzeigbar sind. Müssen sie auch sein, räumen die VW-Macher ein. Schließlich waren die Jetta-Kunden bis vor kurzem noch die treuesten Diesel-Käufer in Amerika und müssen sich jetzt erst wieder mit einem Benziner anfreunden.

Ein stattliches Format, viel Ausstattung aber ein einfaches Ambiente, ein Motor, der eher auf Vernunft als auf Vergnügen ausgelegt ist, und vor allem ein für europäische Verhältnisse fast schon lächerlicher Preis – man muss kein Student der Automobilwirtschaft sein, wenn man dem Jetta in den USA gerade beim akademischen Nachwuchs wieder einen großen Erfolg voraussagen will.

Denn kann VW aber auch dringend brauchen. Denn obwohl die Niedersachsen ihr Dieselgate überraschend gut weggesteckt und im letzten Jahr mit einem Plus von fünf Prozent gegen den Trend des Markes ordentlich zugelegt haben, sind sie von der alten Blüte weit entfernt. Noch, schränkt US-Chef Hinrich Woebken ein und träumt schon wieder von früheren Zeiten, als VW tatsächlich eine Größe war in Amerika und als Importeur ähnlich viel Bedeutung hatte wie heute Toyota, Honda oder die Koreaner: „Wir wollen hier wieder zur Volumenmarke werden,“ sagt der US-Chef und peilt dafür als nächstes Zwischenziel eine Hürde an, über die sie überall sonst in der VW-Welt nur lachen würden. Zwei Prozent Marktanteil will er knacken und muss dafür einen breiten Fußabdruck in den Volumensegmenten des Marktes bekommen.

Text: Benjamin Bessinger/SP-X
Fotos: VW/SP-X

Scroll to Top