Buchtipp – Engelke u.a.: Wir Kinder der 90er

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Ich muss dringend telefonieren, und der Kollege sagt nur, er muss aber unbedingt ins Internet!

Der Stoßseufzer war damals, Mitte der 90er, Alltag – für mich als Redaktionsvertretung völlig ungewohnt: Klar musste der stoßseufzende Kollege telefonieren, er war ja Akquisiteur, aber warum war der zweite im Raum so wild darauf, sich am PC-Bildschirm irgendwo einzuwählen (natürlich im Internet), um frühestens nach dem fünften Versuch erfolgreich zu sein? Überlastung, Verbindungsabbruch …

Wer nur zehn Jahre nach 1990 geboren wurde, kann derlei sicher allenfalls prähistorisch finden. Ältere werden sich nur zu gut an solche Herausforderungen erinnern. Und dieses Büchlein ist voller solcher Herausforderungen. Denn jedes Jahrzehnt hat ihre Moden, ihre Bräuche, folglich auch ihre Seltsamkeiten. Aber die 90er scheinen davon besonders voll gewesen zu sein.

Wie war das doch gleich mit den Tamagotchis, diesen elektronischen Spielzeugen, die in Japan – wenn ihre ohnehin begrenzte Lebenszeit zu Ende war – regelrechte Hysterien ausgelöst haben sollen? In Deutschland waren sie immerhin schlicht ein Renner. Oder die Telefonkarten? Zwölf D-Mark, jawohl, keine Euro, waren mindestens drauf. Die Dinger brauchte man in der Telefonzelle, denn Münzen konnten im Zuge der Umstellung auf Karten nicht mehr eingeworfen werden. Sie zu brauchen, hieß, sie erst mal zu kaufen. Und wenn man, sagen wir mal, am Urlaubsort angekommen war, weit weg von zu Hause, und denen daheim nur erklären wollte, gut angekommen zu sein – dann war für Plaudereien keine Zeit, denn die Einheiten reduzierten sich wie im Fluge, zu sehen an der automatischen Anzeige am Telefon. Je weiter man weg war vom Angerufenen, umso teurer war's. Und der den Duft in den Telefonzellen war bisweilen, wie hier zu Recht angemerkt wird, eigentümlich. Eine Aufforderung zur Mundatmung quasi. Alter Zigarettenrauch war noch eine der angenehmsten Noten…

Da fällt's selbst beim Schreiben auf, wie weit weg dieser Alltag ist. Die Telefonzellen sterben aus, weil vielfach Smartphone und Flatrate ohnehin selbstverständlich sind. Ach ja, ein Nokia-Handy gab's 1999 auch schon, wie die Autoren beweisen. Das war allerdings, wie auch damit zu telefonieren und SMS zu schicken, längst nichts für jeden Geldbeutel.

Ok, soweit die Historie. Lohnt die ein ganzes Buch? Nicht alleine, denn vieles aus diesem Jahrzehnt hatte durchaus früher seine Anfänge bzw. wirkt bis in unserer Gegenwart hinein. Cola light etwa, in den 90ern besonders liebevoll beworben, gibt es schon seit 1983. Und Leggins werden immer noch getragen – was einem durchaus skurrile Anblicke bescheren kann, zugegeben. Pringles können immer noch eine Mahlzeit ersetzen, wenn man für was anderes keine Zeit (mehr) hat, und ob der Karamellriegel, den man mag, Raider heißt oder Twix – so what.

An 99 Beispielen wird hier amüsant und bisweilen drastisch gezeigt, wie ein Jahrzehnt durch Besonderheiten geprägt ist, die man später (siehe Untertitel) nur noch peinlich finden kann – und wie eine Dekade genauso vieles hervorbringen kann, was man später Klassiker nennen wird.

Johannes Engelke u.a.: Wir Kinder der 90er. Goldmann Verlag; 12 Euro.

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